Es regnete in Strömen, als ich das Büro von Detective Ray Morrison betrat. Natürlich regnete es – in Geschichten wie dieser regnet es immer. Die Jalousien warfen Schatten wie Gefängnisgitter an die Wand, und der Whiskey auf seinem Schreibtisch war so klischeehaft positioniert, dass ich beinahe gelacht hätte. Beinahe.
“Sie müssen Evelyn Sharpe sein”, sagte Morrison, ohne von seinen Unterlagen aufzublicken. Seine Stimme klang wie Sandpaper auf Holz – rau, abgenutzt, perfekt für einen Mann, der zu viele Zigaretten geraucht und zu viele Enttäuschungen erlebt hatte.
“Die Schriftstellerin”, fügte er hinzu, als wäre das ein schmutziges Wort.
Ich setzte mich in den Stuhl vor seinem Schreibtisch und betrachtete ihn. Morrison war Mitte fünfzig, mit einem Gesicht wie eine zerknitterte Zeitung und Augen, die einmal blau gewesen sein mochten, bevor das Leben sie grau gefärbt hatte. Ein wandelndes Noir-Klischee.
“Sie haben einen interessanten Ruf, Miss Sharpe”, sagte er und blätterte durch eine Akte. “Krimis schreiben und dabei echte Verbrechen lösen. Sehr… postmodern.”
Ich zündete mir eine Zigarette an – weil man das in solchen Geschichten tut – und blies den Rauch in seine Richtung. “Kommen wir zur Sache, Detective. Sie haben gesagt, es gäbe einen Fall, der meine… besonderen Fähigkeiten erfordern würde.”
Morrison schob mir ein Foto über den Tisch. Ein Mann, Ende vierzig, lag tot in einem Büro. Neben ihm eine alte Schreibmaschine, aus der ein Blatt Papier ragte.
“Marcus Thornfield”, sagte Morrison. “Verleger. Gefunden in seinem Büro, ein Messerstich ins Herz. Das Interessante ist…” Er deutete auf das Papier in der Schreibmaschine. “Das da.”
Ich las die getippten Zeilen:
Der Mörder ist immer der Butler. Aber was, wenn es keinen Butler gibt? Dann wird es kompliziert. Sehr kompliziert. Die Wahrheit ist, dass in jeder Geschichte jemand sterben muss. Und manchmal…
Der Text brach mitten im Satz ab.
“Selbstmord?”, fragte ich, obwohl wir beide wussten, dass es das nicht war.
“Mit einem Messer in den Rücken? Eher unwahrscheinlich.” Morrison lehnte sich zurück. “Aber hier wird es seltsam. Thornfield war mit drei Autoren zerstritten. Alle Krimi-Schriftsteller. Alle hatten Motive.”
Er schob mir drei weitere Fotos hin.
“Daniel Creek. Schreibt Cosy Mysteries. Thornfield hat sein letztes Manuskript abgelehnt – zu vorhersagbar, hat er gesagt. Creek war wütend.”
Das Foto zeigte einen nervösen Mann mit Hornbrille und dünnem Haar. Sein Lächeln wirkte gezwungen, als hätte jemand ihn gebeten, für ein Fahndungsfoto zu posieren.
“Dann haben wir Samantha Vox. Hard-boiled Crime. Thornfield hat ihre Fortsetzungsreihe eingestellt. Zu gewalttätig für den Markt, behauptete er.”
Vox sah aus wie eine Frau, die ihre eigenen Bücher lebte – scharfe Züge, kalte Augen, eine Narbe am Kinn. Definitiv jemand, der wusste, wie man ein Messer führt.
“Und schließlich Professor William Ashworth. Schreibt intellektuelle Krimis mit verschachtelten Plots. Thornfield hat ihm Plagiat vorgeworfen.”
Ashworth wirkte wie der typische Elfenbeinturm-Akademiker – arrogant, überheblich, der Typ Mann, der glaubt, Mord sei nur ein interessantes theoretisches Problem.
“Drei Verdächtige, drei Motive”, sagte ich. “Fast zu ordentlich.”
Morrison nickte. “Genau das dachte ich auch. Deshalb sind Sie hier. Sie kennen diese Leute, verstehen, wie sie denken.”
Was er nicht sagte: Sie sind eine von ihnen.
Ich stand auf. “Ich sehe mir die Tatort-Fotos an und spreche mit den Verdächtigen. Aber Detective…” Ich drückte meine Zigarette in seinem Aschenbecher aus. “In meinen Geschichten ist der Mörder selten der, den man zuerst verdächtigt.”
“Das”, sagte Morrison mit einem müden Lächeln, “befürchte ich auch.”
Drei Tage später saß ich in meinem eigenen Büro – weniger klischeehaft als Morrisons, dafür mit mehr Büchern und weniger Whiskey – und starrte auf meine Notizen.
Creek war nervös gewesen, fast panisch. Zu nervös für einen Mörder, es sei denn, er war ein sehr guter Schauspieler. Vox hatte kalt und berechnet gewirkt, genau wie ihre Protagonistinnen. Perfekt verdächtig. Zu perfekt. Und Ashworth? Der Professor hatte über den Fall gesprochen, als wäre es ein literarisches Puzzle, das es zu lösen galt.
“Der interessante Aspekt”, hatte er gesagt, “ist die unvollendete Nachricht. In der klassischen Kriminalliteratur dient so etwas meist als Ablenkung vom wahren Motiv.”
Klug. Zu klug.
Aber etwas störte mich. Die Schreibmaschine. Eine alte Royal Quiet De Luxe von 1955. Ich kannte das Modell – ich besaß selbst eine. Thornfield war für seine Liebe zu modernen Gadgets bekannt. Warum sollte er plötzlich auf einer antiken Schreibmaschine tippen?
Ich griff zum Telefon und rief Morrison an.
“Detective, eine Frage. War die Schreibmaschine Thornfields Eigentum?”
Pause. Papierrascheln. “Interessant, dass Sie fragen. Nein, war sie nicht. Wir haben sie als Beweismittel beschlagnahmt, aber sie gehörte ihm nicht.”
“Haben Sie die Seriennummer überprüft?”
“Gerade dabei. Warum?”
“Nur eine Eingebung.”
Aber es war mehr als das. Es war die Art, wie Ashworth über den Fall gesprochen hatte. Die Art, wie er die Schreibmaschine betrachtet hatte. Als würde er sie wiedererkennen.
Zwei Stunden später rief Morrison zurück.
“Sie hatten recht, Miss Sharpe. Die Schreibmaschine wurde vor sechs Monaten von einem W. Ashworth bei einer Auktion ersteigert.”
Bingo.
Aber als wir Ashworth verhaften wollten, fanden wir ihn tot in seinem Arbeitszimmer. Erschossen. Ein Abschiedsbrief lag neben ihm, getippt – natürlich – auf derselben Schreibmaschine.
“Ich konnte nicht mit der Schuld leben. Marcus hat mein Werk gestohlen, meine Ideen als seine eigenen verkauft. Als ich ihn zur Rede stellte, lachte er nur. Der Rest war… ein Versehen. Ich wollte ihn nur erschrecken.”
Fall gelöst? Morrison dachte das. Ich nicht.
Denn ich kannte diese Schreibmaschine. Die leicht verzogene ‘e’-Taste. Den charakteristischen Anschlag des ‘t’. Ich kannte sie, weil es meine war.
Die Schreibmaschine, die vor drei Monaten aus meiner Wohnung gestohlen worden war.
Jemand inszenierte hier ein sehr elaboriertes Spiel. Jemand, der wusste, dass ich in den Fall verwickelt werden würde. Jemand, der meine Schreibmaschine benutzte, um zwei Männer zu töten und es wie einen Mord-Selbstmord aussehen zu lassen.
Jemand, der mich kannte. Sehr gut kannte.
Ich saß in meinem Auto vor Ashworths Haus und dachte nach. Wer hatte Zugang zu meiner Wohnung gehabt? Wer wusste genug über Krimis, um so ein perfektes Verbrechen zu inszenieren? Wer…
Mein Handy klingelte. Morrison.
“Miss Sharpe? Wir haben ein Problem. Creek und Vox sind verschwunden. Beide. Und…” Seine Stimme klang seltsam. “Wir haben in Vox’ Wohnung etwas gefunden. Fotos von Ihnen. Hunderte davon. Und einen Plan.”
Mein Blut wurde zu Eis.
“Was für einen Plan?”
“Ein Plan für den perfekten Mord. An Ihnen.”
Die Leitung wurde tot.
Ich sah in den Rückspiegel. Ein schwarzer Wagen folgte mir seit drei Blocks. Langsam, geduldig.
Wie ein Raubtier, das seine Beute umkreist.
Das Spiel hatte gerade erst begonnen.
