Die Lücke
Donnerstag, 19:47 Uhr
Er starrte auf sein Handy. Die Nummer war noch da, natürlich war sie noch da. Aber seine Hand bewegte sich nicht.
„Du kommst doch gleich?” Nadias Stimme aus der Küche, freundlich, aber mit dieser Erwartung darin.
„Ja, zwei Minuten.”
Er hatte „Donnerstag, 19:30” in seinen Kalender geschrieben. Früher. Als die Kinder noch klein waren. Mia hatte immer erzählt, was in der Schule passiert war, ohne Punkt und Komma. Und Leon hatte meist nur „gut” gesagt, bis er dann doch anfing, von seinem Minecraft-Projekt zu erzählen.
„Schatz?” Nadia stand jetzt in der Tür. Sie trug dieses blaue Kleid, das er mochte. „Das Essen wird kalt.”
„Komme sofort.”
Sie blieb stehen. „Du wolltest wieder anrufen.”
Es war keine Frage.
„Ich dachte nur—”
„Schatz.” Sie setzte sich neben ihn auf die Armlehne. „Wir hatten darüber gesprochen. Es tut dir nicht gut. Jedes Mal bist du danach für Tage… weg. Und es hilft den Kindern auch nicht, wenn Claudia dann wieder—”
„Ich weiß.”
Und er wusste es wirklich. Die letzten Male. Mias knappe Antworten. Leons Schweigen. Claudias Stimme im Hintergrund: „Ihr müsst jetzt Hausaufgaben machen.” Und dann diese Leere danach, die sich in seiner Brust ausbreitete wie Tinte in Wasser.
„Du siehst sie doch in zwei Wochen,” sagte Nadia leise. „Das ist der bessere Weg. Richtige Zeit zusammen, statt diese… merkwürdigen Telefonate.”
Richtige Zeit. Sechs Stunden alle zwei Wochen. Zoo, Kino, Burger essen. Gespräche, die sich anfühlten wie Vorstellungsgespräche. Wie geht’s in der Schule? Gut. Hast du neue Freunde? Geht so.
„Und du brauchst auch mal Ruhe,” fügte Nadia hinzu. Ihre Hand auf seiner Schulter. „Du kommst hier doch gar nicht mehr an, wenn du ständig dort bist. Innerlich.”
Er nickte. Sie hatte recht. Wahrscheinlich. Seine Therapeutin hatte etwas Ähnliches gesagt. Grenzen ziehen. Loslassen, wo man nicht mehr wirken kann. Sich auf das konzentrieren, was man aufbauen kann.
19:53 Uhr
Das Handy wurde dunkel. Er stand auf.
In der Küche roch es nach Lasagne. Nadia hatte Kerzen angezündet. Sie war bemüht. Wirklich bemüht. Das neue Leben, das sie zusammen aufbauten, es war gut. Meistens. Ruhig. Erwachsen.
„Riecht super,” sagte er.
Sie lächelte, erleichtert.
Zwei Jahre später
Mia war vierzehn geworden. Er hatte es von Claudias Mutter erfahren, die ihm eine knappe WhatsApp geschrieben hatte. Nicht eingeladen zur Feier. Zu kompliziert, hatte es geheißen.
„Du hättest trotzdem anrufen können,” sagte sein Bruder am Telefon.
„Nadia meint—”
„Nadia ist nicht deren Vater.”
Aber er hatte nicht angerufen. Weil Nadia mit diesem besorgten Blick gefragt hatte: „Willst du dir das wirklich antun?” Weil er sich die Zurückweisung nicht noch einmal abholen wollte.
Drei Jahre später
Leon hatte aufgehört, zu den Besuchsterminen zu kommen. Einfach so. Die SMS kam von Claudia: Er will nicht mehr. Lass ihm Zeit.
Mia kam noch. Manchmal. Aber sie war anders. Verschlossen. Ihr Handy immer in der Hand, als wäre es eine Rettungsleine.
„Wie ist es in der Schule?”
„Gut.”
„Erzählst du mir—”
„Papa, ich hab nicht so viel Zeit heute. Mama holt mich um vier ab.”
Es war halb zwei.
Zu Hause erzählte er Nadia davon. Sie strich ihm über den Rücken.
„Vielleicht ist es besser so,” sagte sie leise. „Für alle. Teenager brauchen Distanz. Und du… du kannst endlich durchatmen.”
Sieben Jahre später
Mia war zweiundzwanzig. Er wusste es, weil er den Kalender noch führte. Alle Geburtstage eingetragen. Alle wichtigen Daten.
Er hatte ihr zum Achtzehnten geschrieben. Keine Antwort.
Zum Neunzehnten. Zwanzigsten. Einundzwanzigsten.
Irgendwann hatte er aufgehört.
Leon hatte er seit vier Jahren nicht mehr gesehen. Auf Instagram postete er Fotos von Reisen, vom Studium, von Freunden. Sein Profil war öffentlich, aber er hatte die Freundschaftsanfrage nie bestätigt.
„Du musst loslassen,” sagte Nadia. Sie sagte es nicht mehr vorwurfsvoll. Nur noch matter. Als wäre sie selbst müde geworden von diesem Thema.
„Sie sind meine Kinder.”
„Sie waren deine Kinder.”
Und zum ersten Mal sah er in ihren Augen etwas, das wie Verachtung aussah.
Neunzehn Jahre später
Die Einladung kam per Post. Steife, cremefarbene Karte mit goldenen Buchstaben.
Mia Bergmann & Jonas Keller
laden zur Hochzeit ein
Sein Name stand nicht auf der Liste der Trauzeugen. Nicht unter den Rednern. Nur in der allgemeinen Einladung, höflich und distanziert.
Er saß im Café gegenüber der Kirche. Durch das Fenster sah er sie ankommen. Mia im weißen Kleid, strahlend. Leon in einem Anzug, größer als er ihn in Erinnerung hatte. Claudia mit ihrem Mann, der Mias Arm hielt, bevor er sie dem Bräutigam übergab.
Er hätte reingehen können. Die Einladung lag in seiner Tasche.
Aber er wusste: Er war dort nicht willkommen. Nicht wirklich.
Nadia war vor drei Jahren gegangen. Ohne Drama. Ohne Erklärung. Nur ein Brief auf dem Tisch: Ich kann nicht mehr zusehen, wie du dich selbst zerstörst. Sie hatte einen anderen Mann. Schon seit Jahren, er wollte es nicht sehen, wie so viele Dinge.
Das Haus war leer verkauft worden. Das Geld aufgeteilt. Sie hatte nie wieder geschrieben.
Siebenundzwanzig Jahre später
Die Nachricht kam von einer Nummer, die er nicht kannte.
Hallo. Hier ist Leon. Mia meinte, ich soll dir Bescheid geben: Sie hat letzte Woche einen Sohn bekommen. Ihm geht es gut.
Er starrte auf die Worte. Ein Enkel. Er war Großvater.
Seine Hände zitterten, als er zurückschrieb: Das ist wunderbar. Wie heißt er? Kann ich ein Foto sehen?
Die Antwort kam nach zwei Tagen.
Paul. Nein, besser nicht. Mia will ihre Ruhe.
Keine Erklärung. Keine Tür, die sich öffnete.
Nur diese Mauer, die über all die Jahre gewachsen war. Stein für Stein. Donnerstag für Donnerstag. Jedes Mal, wenn er nicht angerufen hatte.
Heute
Er saß am Fenster seiner kleinen Wohnung. Siebzig Jahre alt. Allein.
Auf dem Handy scrollte er durch alte Fotos. Mia mit vier Jahren auf seinen Schultern. Leon, wie er seine ersten Schritte machte.
Gesichter, die er kannte. Menschen, die ihn vergessen hatten.
Seine Kinder hatten nicht verstanden. Konnten nicht verstehen.
Für sie war er der Vater, der nicht anrief. Der nicht kam. Der an Geburtstagen schwieg und an Weihnachten nicht da war.
Dass Nadia ihm jeden Anruf ausgeredet hatte – das hatten sie nie erfahren. Das konnte er ihnen nicht erklären, ohne wie eine Ausrede zu klingen.
Dass er geglaubt hatte, er würde das Richtige tun, indem er Frieden wahrte, indem er nicht störte, indem er auf bessere Zeiten wartete – das zählte nicht.
Am Ende zählte nur: Er war nicht da gewesen.
Und irgendwann hatten sie aufgehört, auf ihn zu warten.
Er hätte kämpfen müssen. Gegen Nadia. Gegen Claudia. Gegen seine eigene Müdigkeit.
Aber er hatte es nicht getan.
Und jetzt saß er hier, mit einem Leben voller Rechtfertigungen, die niemand mehr hören wollte.
Draußen wurde es dunkel.
Es war Donnerstag.
19:47 Uhr.
Die Uhrzeit, zu der irgendwo da draußen ein kleiner Junge namens Paul vielleicht gerade ins Bett gebracht wurde. Von einer Tochter, die er verloren hatte. Von Großeltern aus Claudias Familie, die seinen Platz eingenommen hatten.
Von Menschen, die da waren.
Und er verstand endlich: Man verliert seine Kinder nicht in einem Moment.
Man verliert sie in tausend kleinen Momenten, in denen man nicht kämpft.
In denen man der falschen Person glaubt, dass Schweigen besser sei als Liebe, die unbequem ist.
Die Erkenntnis kam zu spät.
Sie kam immer zu spät.