Von Sabine Dahnke
An dem Tag, an den ich oft zurückdenke, bestand mein Lebensplan aus genau drei Dingen: ein ganzes Hähnchen, zwei nackte Füße und der Versuch, beides irgendwie mit Würde zu verbinden.
Die Küche war zu klein für große Gesten. Die Fliesen unter meinen Füßen hatten diesen kühlen, leicht klebrigen Charakter von Mietwohnungen, die schon mehrere Leben gesehen haben, und ich stand barfuß mitten in einer Mischung aus Olivenöl, Knoblauchduft und Radiogedudel, die so tat, als wäre das hier eine Kochshow und nicht einfach nur mein Dienstagabend. Auf der Arbeitsplatte lag das Hähnchen, leicht beleidigt wirkend, daneben eine Schüssel mit Marinade, in der die Kräuter aussahen, als würden sie noch einmal um Bedenkzeit bitten.
„Du weißt schon, dass du barfuß kochst?“, sagte Adi aus dem Türrahmen heraus. Er lehnte dort wie bestellt und nicht abgeholt, Kaffee in der Hand, Oberkörper im Flur, Füße schon halb im Wohnzimmer, als traue er sich nicht richtig in die heilige Zone der rohen Geflügelteile.
„Spürst du die Bodenhaftung?“, erwiderte ich und drückte mit den Fingern die Zitronenhälften über dem Hähnchen aus. „Das ist Mindfulness. Boden und ich, wir arbeiten zusammen.“
Er musterte meine Füße, dann das Hähnchen, dann wieder mich. „Weißt du, was dein Problem ist?“, fragte er in diesem Ton, der immer ankündigte, dass jetzt etwas kommt, was gleichzeitig albern und nicht ganz falsch ist. „Du verkaufst dich völlig unter Wert.“
Im Radio lief irgendein Ratgeber-Beitrag über Bewerbungsgespräche und Zukunft, die in PowerPoint-Folien passt. Gerade zählte eine überengagierte Stimme die wichtigsten Hard Skills auf, die man mitbringen müsse, um im Berufsleben zu bestehen. Excel, Sprachen, Teamfähigkeit, blabla. Ich schob das Hähnchen ein Stück, damit die Marinade besser in die Haut lief, und dachte, dass niemand je von mir verlangt hatte, ein ganzes Leben in Stichpunkten auf eine DIN-A4-Seite zu pressen, bis diese Stimmen im Radio auftauchten.
„Aha“, sagte ich. „Und was genau ist jetzt mein unterschätzter Marktwert?“
Adi hob den Zeigefinger, als halte er gleich einen Vortrag. „Hard Skills“, sagte er. „Die reden da immer von Hard Skills. Und weißt du, was ein echter Hard Skill ist?“
Er machte eine kleine Pause, trank einen Schluck Kaffee und grinste. „Barfuß Hähnchen braten. Das kann nicht jeder.“
Ich lachte, und während ich lachte, rutschte ein Tropfen Öl von meinem Handgelenk Richtung Ellenbogen. Ich sah ihm zu, wie er sich seinen Weg bahnte, und dachte, dass es vielleicht stimmt: Es gibt Fähigkeiten, die in keiner Bewerbung auftauchen, obwohl sie das halbe Leben zusammenhalten. Zum Beispiel, ein Hähnchen mit einer Hand festzuhalten, ohne es fallen zu lassen, während man mit der anderen den Ofen öffnet und gleichzeitig versucht, nicht auf die Knoblauchzehe zu treten, die einem vorhin vom Brett gerollt ist.
„Schreib das mal in deinen Lebenslauf“, fuhr Adi fort. „Kenntnisse: Französisch, Deutsch, Englisch – barfuß Hähnchen braten. Fortgeschritten.“
„Das ist kein Hard Skill“, sagte ich. „Das ist höchstens ein Soft Skill mit Haut.“
„Quatsch“, meinte er. „Soft Skills sind so Sachen wie nett sein und zuhören. Du hantierst hier mit heißem Fett, rohem Fleisch und nackter Haut. Wenn das kein Hard Skill ist, weiß ich auch nicht.“
Ich schob das Hähnchen in den Ofen, beugte mich vor, spürte die Hitze im Gesicht und das Ziehen in der Wade, weil ich unwillkürlich auf die Zehenspitzen ging. Hinter mir stellte Adi die Tasse ab, ich hörte das leise Porzellanklicken auf der Arbeitsplatte. Als ich mich wieder aufrichtete, stand er plötzlich näher bei mir, nah genug, dass ich seinen Atem in meinem Nacken spüren konnte.
„Außerdem“, sagte er leise, „mag ich es, wenn du barfuß durch die Küche läufst. Das sieht aus, als würdest du bleiben.“
Der Satz erwischte mich an einer Stelle, von der ich bis dahin nicht wusste, dass sie existiert. Bleiben. Als wäre das eine entscheidenede Qualifikation, die irgendwo hinter Sprachkursen und EDV-Kenntnissen in Klammern auftaucht: neigt zum Bleiben. Ich stützte mich mit einer Hand am Ofen ab, um in dieser plötzlichen Schwerkraft nicht nach hinten zu kippen.
„Das ist kein Skill“, murmelte ich. „Das ist ein Risiko.“
„Die besten Skills sind immer ein Risiko“, antwortete er. „Frag mal dein Hähnchen.“
Wir schwiegen, nur der Ofen begann leise zu rauschen, und der erste, sehr vorsichtige Bratenduft kümmerte sich darum, die Küche in etwas zu verwandeln, das man später Erinnerung nennen kann. Adi schob mit seinem Fuß meinen Pantoffel zur Seite, als wäre er ein Hindernis auf einer Bühne, die frei bleiben sollte.
„Also gut“, sagte ich schließlich. „Hard Skills: barfuß Hähnchen braten. Soft Skills: nicht weglaufen, wenn der Rauchmelder losgeht.“
Adi nickte zufrieden. „Siehst du. Und irgendwo dazwischen“, er beugte sich runter und strich mit der Hand kurz über meinen Knöchel, „steht dann noch: liebt den Mann, der ihr das eingeredet hat.“
Der Radiobeitrag war längst beim Thema „Selbstoptimierung“ angekommen, die Sprecherin erklärte irgendetwas über Ziele in Fünfjahresplänen. Ich stand mitten in dieser viel zu kleinen Küche, barfuß, mit Hähnchenfett an den Fingern, Adis Hand im Rücken und einem Gefühl im Brustkorb, das in keine Tabelle passte. Ich dachte, ganz kurz, dass ich das alles so, genau so, als Qualifikation behalten wollte: das Stehen auf kalten Fliesen, die Wärme aus dem Ofen, sein Zwinkern, wenn er „Hard Skill“ sagte, als wäre das ein Insiderwitz nur für uns.
Damals ahnte ich noch nicht, wie oft ich später an diesen Moment denken würde, wenn draußen alles nach Kontrolle und Krisenmanagement klang. Ich wusste nur, dass es gerade gut war. Und dass ich, wenn mich jemand gefragt hätte, was ich kann, nicht gelogen hätte mit: „Ach, nichts Besonderes.“


