Corona und sein Meinungssyndrom

Ein Kommentar zur situativen Verkleidungskunst unserer Gegenwart

Es war einmal ein Virus, das über die Welt kam – nicht, um sie zu erlösen oder auszulöschen, sondern um sie auszuziehen. Corona war kein medizinisches Problem, es war ein moralischer Striptease. Während die einen noch nach Masken suchten, hatten andere längst die Hosen runtergelassen. Die Pandemie, so liest man bei Sebastian Fitzek, im aktuellen Stern Interview, habe Hypochonder, Schwurbler, Nihilisten und Verschwörungstheoretiker entlarvt. Das mag stimmen. Aber sie hat noch mehr geschaffen: eine ganz neue Garderobe für politische und moralische Meinungen.

Heute trägt man Haltung wie einen Anzug. Schlank geschnitten, atmungsaktiv und selbstverständlich wechselbar – je nach Publikum, Plattform und Lichteinfall. Was gestern noch Grundrechte verteidigte, wird heute zur Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt erklärt. Und umgekehrt. Wer zu Beginn der Pandemie Masken trug, war solidarisch. Später galt das als obrigkeitshörig. Dazwischen lagen oft nur wenige Wochen – und eine Meinungswende von „Wir bleiben zu Hause“ zu „Ich lass mir doch nichts vorschreiben“.

Willkommen im postfaktischen Ankleidezimmer: Die Meinung von gestern wird recycelt, neu gefüttert und als „gewachsene Erkenntnis“ ausgegeben. Jeder ist heute ein bisschen Virologe, Verfassungsrichter, Geopolitiker – je nach Bedarf. Der gesellschaftliche Diskurs gleicht einem Maskenball, bei dem sich kaum noch jemand fragt, wer da eigentlich tanzt – Hauptsache, man steht im Licht.

Und der Kaiser? Der steht wieder einmal nackt da. Nur dass er diesmal glaubt, sein moralischer Maßanzug bestehe aus Transparenz und Selbstkritik. In Wahrheit trägt er das, was gerade gut ankommt. Das Etikett heißt „Haltung“, aber die Naht ist schlecht verarbeitet. Eine falsche Bewegung, ein falsches Zitat – schon platzt der Stoff. Dann wird schnell neu geschneidert, notfalls mit heißer Nadel, Hauptsache, die öffentliche Meinung applaudiert.

Corona war keine Prüfung für unsere Gesundheit. Es war eine Generalprobe für unser Rückgrat. Wer jetzt noch stehen kann, ohne sich dauernd umzuziehen, hat vielleicht keine 10.000 Follower – aber vielleicht noch ein bisschen Würde im Schrank.

3 Gedanken zu “Corona und sein Meinungssyndrom

  1. „Wer heute klüger ist als gestern
    und es mit offener Stirn bekennt,
    den werden die Biedermänner lästern
    und sagen, er sei inkonsequent.“

    Paul Johann Ludwig von Heyse (1830 – 1914)

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  2. Nun, wer den Virus abbekam und eventuell heute noch krank ist – das sind, wie meist, nicht sehr viele – oder aber tot – das sind mehr – der wird schon auch davon sprechen, dass es eine sozialmedizinische Herausforderung war (die auch keineswegs vorbei ist, den Virus gibt es nach wie vor, er mutiert munter vor sich hin, wie all die anderen Viren auch… bis zur nächsten Epi- oder Pandemie ist es nicht weit).
    Das andere freilich stimmt uneingeschränkt. Man versuchte sich, geradezu peinlich unvorbereitet auf Pandemien trotz zahlloser Warnungen, auf die neue Situation, auf das Unbekannte einzustellen. Und ja, dabei wurden Fehler gemacht, Anpassungen vorgenommen. Ich denke nach wie vor, dass die Reaktion im Ganzen einigermaßen sinnvoll war, auch wenn es, nochmals gesagt, natürlich hier und da zu Unter- oder auch Übertreibungen kam. Was ich bis heute nicht verstehe sind die Schreihälse, die alles besser wissen, es sei denn, sie liegen plötzlich auf Intensiv im Gang, weil kein Platz mehr ist…

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